- Religion im Kontakt: Christliche Begegnung mit anderen Religionen und Lebenswelten
- Religion im Kontakt: Christliche Begegnung mit anderen Religionen und LebensweltenDie durch die Mission erfolgte Ausbreitung des Christentums brachte für das Selbstverständnis der Kirche und ihr Christusbild Probleme mit sich. Alle Kirchen in der Dritten Welt gründen in der biblischen Botschaft, finden Anhalt in der zentralen Figur des Jesus Christus. Die Bibel, der »Text«, bleibt für sie die Quelle des Glaubens und der Maßstab des christlichen Lebens. Doch sie schöpfen noch aus einer weiteren Quelle, aus der jeweils ererbten Kultur und den eigenen religiösen Erfahrungen; sie sind überdies beeinflusst von den den sozioökonomischen und politischen Verhältnissen des Umfeldes. Der biblische Text liegt in allen asiatischen und afrikanischen Umgangssprachen vor, doch das religiöse Erleben ist durch den Kontext bestimmt. Die Bibel wird gelesen und befragt, erzählt und gedeutet aus der Sicht unmittelbarer Erfahrung im Alltag, aus den jeweiligen Nöten und Sorgen des Lebens. Das Lesebuch der Vergangenheit wandelt sich so zum Lebensbuch der heutigen Gemeinde. Im Licht des Kontextes scheinen auch neue, von kirchlichen Dogmen abweichende Glaubenseinsichten auf.In Asien prägte die Berührung mit einer vielfältigen Religiosität die Ausformung des christlichen Glaubens. Dabei geht es nicht um das Verstehen und die sprachliche Darstellung Gottes oder des Göttlichen, sondern vielmehr um die vertiefende Erfahrung der göttlichen Geheimnisse im einzelnen Menschen. Was die heiligen christlichen und hinduistischen Schriften verschlüsselt darbieten, entfaltet sich durch Meditation und Kontemplation zur Gottesschau. Auf dem Weg zu den göttlichen Geheimnissen wird die Erfahrung Jesu, die seines Einsseins mit dem Vater, erneut gemacht. Christus ist ein »Avatara«, eine Verkörperung Gottes in irdischer Gestalt, und zwar einer unter vielen anderen. Als Guru, als religiöser Lehrer, führt Jesus seine Schüler zur Erfahrung des Göttlichen. Diese erfahrene Wahrheit wirkt befreiend. Das Einssein mit Gott bedeutet auch das Einssein mit dem Geringsten, nach dem Spruch Jesu: »Was ihr einem unter meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan«. Christus lebt mitten unter den Armen und Unterdrückten in einer ungerechten Gesellschaftsordnung; er leidet mit ihnen und kämpft mit ihnen. Die Befreiung von den unheilvollen Mächten dieser Welt ist vordringliche Aufgabe in der Nachfolge Jesu.In Afrika nehmen die herkömmlichen Stammesreligionen einen festen Platz ein. Die alten religiösen Vorstellungen und Rituale leben im Alltag weiter. Ereignisse und Phasen im biologischen Leben, gesellschaftliche Verhältnisse und persönliche Beziehungen, soziale und private Geschicke werden religiös aufgefasst und eingeordnet. Im afrikanischen ganzheitlichen Denken und Fühlen sind der sozial-profane und der geistig-religiöse Bereich, die sichtbare und die unsichtbare Welt eng miteinander verknüpft. Dies prägt die afrikanischen Gestaltungen der christlichen Botschaft. Die traditionelle Ahnenverehrung verbindet Lebende und Tote zu einer Gemeinschaft. Ahnen wirken als Geist, helfen in akuter Not, dienen als Vorbild. Unter ihnen ragt der Ur-Ahn heraus. Er begründet die Sippengemeinschaft, begleitet die Entwicklung der Nachfahren und gilt als bleibender Lebensspender. In diese Vorstellung und den damit verbundenen Kult fügen. Christen ihren Herrn Jesus Christus ein: Er ist der »Proto-Ahn«, der allen Ahnen vorausgeht; er ist die Quelle jeglicher Lebenskraft. Im Bild des Ahnenbaumes, der sich durch Samen vermehrt und allzeit grünt, hat Christus die Gestalt des immer währenden »Lebensbaumes«; die Christgläubigen bilden die Zweige. Krankheiten, Verletzungen des Körpers und der Seele erfordern die Hilfe des Medizinmannes; er kennt die geeigneten Heilmittel, besitzt übernatürliche Kräfte und beschwört die bösen, krankheitserregenden Geister. Christen geben Jesus den Titel des »Heilers«, der sich mit den Patienten gleichsetzt, volle Gesundheit schenkt und die Dämonen besiegt.Angesichts der bedrückenden sozialen Verhältnisse der schwarzen Bevölkerung und der politisch-ökonomischen Vorherrschaft der Weißen wandelt sich die christliche Ankündigung von Heil und Erlösung zur konkreten, politisch-sozialen Aufgabe: Heil wird handgreiflich erlangt durch Überwindung von Armut und Unterdrückung, durch Befreiung aus wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeit. Dabei stehen weniger das Leiden und der opferwillige Kreuzestod Jesu im Blickfeld; vielmehr erscheint Jesus im Lichte des Befreiers und Siegers über die Unheilsmächte. Im Kampf für eine nicht-rassistische Gesellschaft ist er der schwarze Messias. Gott ist in Jesus vollständig eins geworden mit denen, die an ihn glauben; der »schwarze Christus« wird alle unterdrückten Völker befreien.Diese Beispiele deuten wesentliche Veränderungen des traditionellen. Christusbekenntnisses an und weisen auf einen anderen. Christus hin. Den. Christen in Asien, Afrika und Lateinamerika genügt das von westlichen Missionaren importierte dogmatische Christusbild offensichtlich nicht. Die in das europäisch-amerikanische Korsett gezwängte christliche Verkündigung erscheint ihnen unverträglich mit der eigenen kulturell-religiösen Tradition und unerheblich für notwendige sozialpolitische Reformen. Ihr Glaube muss auf die jeweilige Situation bezogen sein, wenn er glaubwürdig und lebensdienlich sein soll. Die Begegnung der christlichen mit anderen Religionen und Kulturen führt überdies vor Augen: Die christliche Religion ist dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Sie hat andere Religionen zur Seite, die gleichfalls Grundfragen menschlicher Existenz beantworten. Ihr kulturübergreifender Absolutheitsanspruch ist an Grenzen gestoßen. Der christliche Glaube und das christliche Handeln, Lehren und Leben nehmen mehr und mehr ein multikulturelles Gesicht an.Prof. Dr. Dr. Erwin FahlbuschBilanz der Theologie im 20. Jahrhundert. Perspektiven, Strömungen, Motive in der christlichen und nichtchristlichen Welt, herausgegeben von Herbert Vorgrimler und Robert van der Gucht. 4 Bände. Freiburg im Breisgau u. a. 1-21969—70.Geschichte des Christentums, Band 3:Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit. 17.—20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21987.Hollenweger, Walter J.: Interkulturelle Theologie. 3 Bände. München 1-21982—90.
Universal-Lexikon. 2012.